Rede von Dr. Alix Frank-Thomasser
Buchpräsentation, November 2010
Ich beginne diese Buchpräsentation ganz bewusst mit einem Zitat eines 15-jährigen Mädchens. Anne Frank schrieb am 5. April 1944 in ihr Tagebuch:
„Oh ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“
Anne Frank hat damit das ausgedrückt, was dieses Buch sagen will: Wir wollen erinnern. Wir wollen an die einzelnen Schicksale unserer Kolleginnen und Kollegen erinnern. Sie haben nicht umsonst gelebt. Sie sollen nicht vergessen sein.
Der Leser dieses Buches wird mit insgesamt 1.914 Schicksalen verfolgter österreichischer Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte konfrontiert sein. 1.830 unserer Kollegen und Kolleginnen wurden aufgrund jüdischer Herkunft verfolgt, 67 Anwälte und Anwältinnen aus politischen Gründen und 17 aus anderen Gründen, wie zum Beispiel Widerstand, Homosexualität oder auch aus den Unterlagen für uns nicht ersichtliche Verfolgungsgründe.
Das Buch umfasst daher die Schicksale aller Kolleginnen und Kollegen die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt worden sind und vom Berufsverbot betroffen waren.
Neben den 1.914 Einzelschicksalen der verfolgten Anwältinnen und Anwälte werden Sie in diesem Buch auch über den Hintergrund der Recherche, die Quellen, aber auch über die Geschichte der österreichischen Rechtsanwaltschaft von 1918 bis 1938 informiert, also über den Zeitgeist am Vorabend der schrecklichen Verfolgungen. Barbara Sauer ist die Hauptautorin dieses Buches. Sie hat in mühevoller Detailarbeit die Einzelschicksale der verfolgten Kolleginnen und Kollegen recherchiert und im biografischen Teil dieses Buches zusammengefasst. Die Mitautorin Frau ao. Univ.-Prof. Dr. iur. Ilse Reiter-Zatloukal erklärt uns Hintergrund und Ausgangspunkt der Verfolgung der österreichischen Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen. Sie gibt uns in ihrem Beitrag Einblick, inwieweit ein Zusammenhang zwischen dem Antisemitismus, der Jahrhundertwende und dem freien Berufsstand der Rechtsanwälte besteht.
In der Zwischenkriegszeit war die österreichische Rechtsanwaltschaft in 7 Länderkammern organisiert: Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Kärnten, Steiermark, Oberösterreich, sowie als größte Länderkammer diejenige für Wien, Niederösterreich und Burgenland. Diese hatte zum Zeitpunkt des sogenannten Anschlusses 2.541 Mitglieder, Ende 1938 jedoch nur noch 771. Daraus ergibt sich eine Differenz von 1.770 Mitgliedern, die zwar nicht exakt der Anzahl der verfolgten bzw. gelöschten Mitgliedern entspricht, weil im Zeitraum März bis Dezember 1938 auch nicht verfolgte Rechtsanwälte verstarben. Andererseits aber auch neue Mitglieder in die Kammer aufgenommen wurden.
Tatsächlich wurden während der NS-Zeit 1.804 Verfolgte aus den Listen der größten Länderkammer, der Rechtsanwaltskammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland gestrichen, davon der Großteil mit Ende 1938, weil sie nach den Nürnberger Rassengesetzen als Juden galten.
Deswegen erlauben Sie mir aus Anlass der Präsentation dieses Buches einige Worte zur jüdischen Religion. Die jüdische Religion geht davon aus, dass das Leben den höchsten Wert habe, das Diesseits wird daher in jeder Weise bejaht. Umsomehr ist es eine Strafe für einen gläubigen Juden, wenn sein Name nicht mehr erwähnt wird, wenn er vergessen wird. So dürfen auch jüdische Gräber niemals eingeebnet werden, um für eine erneute Belegung Platz zu schaffen. Jüdische Gräber haben Bestand für alle Zeiten und wurden damit auch für uns zu einer der wichtigsten historischen Quellen. Verfolgte jüdische Anwälte, die in der Schoah verstorben sind, haben kein Grab, keine Innschrift. Wenn Sie ein jüdisches Grab besuchen, werden Sie als gläubiger Jude keine Blumen, die verwelken, hinterlassen sondern einen kleinen Stein auf das Grab legen, zur „ewigen“ Erinnerung. Dieses Buch ist daher vielleicht auch ein solcher Stein der Erinnerung. Dieses Buch soll daher auch gerade diesen Kollegen einen bedeutenden Teil ihres Lebens und damit ihren Namen wieder geben. In den 1.914 Einzelbiographien werden Sie die Schicksale der verfolgten Anwältinnen und Anwälte nachvollziehen können, teils im Detail, teils durch persönliche Zeugnisse, Briefe der Betroffenen an den Hilfsfonds, soweit sie die Schoah überlebt haben, Zeugnisse von Nachkommen der verfolgten Anwälte und Anwältinnen und Daten und Fakten zu den verfolgten Anwälten und Anwältinnen aus diversen Archiven.
Bisher wurde in Österreich keine Berufsgruppe hinsichtlich der NS-Opfer in diesem Ausmaß untersucht, doch wurde in verschiedenen Werken immer wieder auf die besondere Verfolgungssituation in der Anwaltschaft verwiesen.
Kommen wir nun zu den Quellen der Recherche:
Bei der erstmaligen Aufnahme einer Person als Konzipient oder Konzipientin in einer Kanzlei erfolgte die Eintragung in die Rechtsanwaltsanwärterliste. Diese sollte Geburtsdatum und -ort verzeichnen, Daten und Orte der drei vorgeschriebenen Staatsprüfungen und der Promotion, sowie die Gerichtspraxis. In weiterer Folge wurden die jeweilige Praxiszeit, auch anrechenbare andere Tätigkeiten, sowie Datum und Ort der Rechtsanwaltsprüfung und die Eintragung in die Verteidigerliste vermerkt. Mit Erreichung der vorgeschriebenen Praxiszeiten und Ablegung der Rechtsanwaltsprüfung wurde man dann in die Rechtsanwaltsliste eingetragen.
Ausgangspunkt der dem Buch zugrunde liegenden Recherche bildeten die Rechtsanwaltslisten, die in allen Kammern erhalten geblieben sind. Diesen Rechtsanwaltslisten entstammt auch der Stempel „Gelöscht“, der am Buchcover zu sehen ist.
Die Rechtsanwaltskammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland hatte bis zum Ende des Jahres 1938 so viele Löschungen durchzuführen, dass sie für die Löschung sogar einen eigenen Stempel anfertigen ließ.
Neben den Rechtsanwaltslisten bewahrten die Rechtsanwaltskammern in Innsbruck und Graz darüber hinaus auch noch historische Personalakte auf, die sich nicht nur für die Biographien der Betroffenen, sondern auch in einem größeren Zusammenhang als überaus wertvolle Quelle erwiesen haben, da diese Akten Schriftstücke enthielten, die insbesondere das Vorgehen bei den Löschungen im Jahr 1938 aufzeigen.
Neben den vorgenannten Quellen standen Landesarchive, das österreichische Staatsarchiv, vor allem die Akten der ehemaligen Vermögensverkehrsstelle und der Hilfsfonds, das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und das Matrikenamt der israelischen Kultusgemeinde zur Verfügung. Nicht zu vergessen sind aber auch die vielen Hinweise von Angehörigen, die wir zu den einzelnen Schicksalen der verfolgten Anwältinnen und Anwälte erhalten haben.
Woher kamen die verfolgten Anwältinnen und Anwälte?
David Glesinger schreibt über das Schicksal seines Vaters und Rechtsanwalts Dr. Marzell Glesinger, dass sein Vater am 21. Juni 1892 in Leoben im Gebiet der Steiermark geboren wurde, mit den Wurzeln schon über 500 Jahre in Österreich. Das trifft wohl auf viele nach dem Reichsbürgergesetz aus rassischen Gründen gelöschten Anwältinnen und Anwälte zu. Sie waren Österreicher, viele sogenannte Altösterreicher. Viele haben im ersten Weltkrieg für ihr Vaterland gekämpft, viele wurden für ihren Einsatz im ersten Weltkrieg geehrt. So hat auch Kollege Dr. Marzell Glesinger zwei militärische Auszeichnungen im ersten Weltkrieg erhalten. Er war Rechtsanwalt in Villach. „Von einem Tag auf den anderen wurde meinem Vater nach dem 12. März 1938 von der Rechtsanwaltskammer verboten zu praktizieren. Er durfte seine Kanzlei nicht mehr betreten, die ein Teil unserer Wohnung war. Anstelle meines Vaters übernahm ein anderer Rechtsanwalt die Kanzlei mit dem Namen Geissler. Nach einigen Tagen kamen sie zu uns nach Hause und haben uns alle Wertgegenstände weggenommen. Mein Vater musste mit seiner Familie - ich war ein Baby, meine Schwester war ein kleines Mädchen - nach Wien fliehen. Dann sind wir mit unseren Eltern über Deutschland nach Holland geflohen, dort sind wir einige Wochen geblieben und von dort aus sind wir 1939 nach Israel emigriert - ohne Geld und ohne Beruf!“ Dr. Glesinger hat in Israel im Straßenbau gearbeitet, er war Lastenträger und Nachtwächter. Er hat nie wieder zu sich selbst gefunden. Er hat nie wieder in seinem Beruf, dem Rechtsanwaltsberuf, gearbeitet.
Beinahe alle verfolgten Anwältinnen und Anwälte, denen die Emigration und damit das Überleben in der Schoah gelang, fanden nicht mehr in den Rechtsanwaltsberuf zurück. Einige wenige re-emigrierten und wurden nach 1945 in Wien wieder in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen.
Ganz wenige, wie zum Beispiel Dr. Abraham Groß, konnten später in der Emigration ihren Rechtsanwaltsberuf erfolgreich wieder ausüben.
Univ.-Prof. Nachum Groß schreibt über seinen Vater: „Mein Vater wurde 1893 im Bezirk Brody in Ostgalizien geboren, wo er das deutschsprachige klassische K.K.Rudolfs-Gymnasium besuchte. Schon während der Schulzeit erteilte mein Vater Privatunterricht, unter anderem in der hebräischen Sprache. 1912 inskribierte mein Vater in Wien an der juristischen Fakultät und der Kaiserlich Königlichen Exportakademie (heute: Wirtschaftsuniversität Wien), wo er unter anderem Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch erlernte. Nach deren Abschluss wurde mein Vater im Sommer 1916 zum Militär eingezogen und wegen seiner Sprachkenntnisse dem Nachrichtendienst zugeteilt. Er promovierte am 23.12.1918 zum Dr. jur. an der Universität Wien und hatte 1934 seine eigene Kanzlei im 6. Wiener Gemeindebezirk in der Kapistrangasse 4 eröffnet, wo auch seine Familie wohnte. Seine Frau half ihm bei der Büroarbeit, besonders mit der Buchhaltung. Nach dem sogenannten „Anschluss“ vertrat mein Vater vorwiegend jüdische Klienten bei Zwangsverkäufen gegenüber Behörden, in den Verhandlungen zur Entlassung aus einem Konzentrationslager oder bei der Beschaffung von Visa. Erst nachdem er selbst von der Gestapo für einige Wochen Verhör verhaftet wurde und das Gesetz jüdischen Anwälten auch die Vertretung jüdischer Klienten untersagte, bemühte sich mein Vater um die eigene Emigration. Im Frühjahr 1939 erreichte unsere Familie Palästina. Ein dort schon seit 1921 ansässiger Verwandter half bei der Wohnungssuche und fand auch einen Anwalt in Palästina, der meinen Vater als Kandidat in seine Kanzlei aufnahm. Das Rechtssystem in Palästina bestand aus englischen, türkischen und religiösen Elementen und die Mandatsregierung verlangte von den eingewanderten Anwälten, Prüfungen in zwei oder drei offiziellen Sprachen und in allen Gesetzesbereichen. Viele neu zugewanderte Juristen scheiterten an diesen Vorgaben. Für meinen Vater waren Englisch und Hebräisch kein großes Problem, für die juridischen Prüfungen besuchte mein Vater einen privaten Vorbereitungskurs und nach dem Erwerb der Lizenz konnte mein Vater nun eine eigene, bald erfolgreiche Kanzlei in Palästina führen. Mein Vater Dr. Abraham Groß verstarb 1969 bis zu seinem letzten Tag aktiv in seiner Anwaltspraxis.“ Das Schicksal von Dr. Groß ist ein Ausnahmeschicksal jener verfolgten Anwälte und Anwältinnen, denen die Emigration noch rechtzeitig gelang.
Den meisten verfolgten Rechtsanwälten, die die Schoah überlebten, erging es wie dem Wiener Rechtsanwalt Gustav Leipen, der an den Hilfsfonds schrieb: „Vor meiner Emigration aus Österreich im Jahr 1938 war ich seit den Jahren 1898 als Rechtsanwalt, zuletzt in Wien 1, Göllsdorfgasse 4, tätig. Ich habe meine Arbeitskraft und Fähigkeiten meinen Kollegen und der Rechtsanwaltskammer immer in uneigennütziger Weise zur Verfügung gestellt und war vom Jahre 1916 bis 1938 im Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer tätig. Vom Jahre 1929 an habe ich die Funktion des Vizepräsidenten der Rechtsanwaltskammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland inne gehabt. Durch viele Jahre hindurch war ich Obmann der Hilfskasse und war jederzeit bereit, auch aus meinen persönlichen Mitteln Kollegen und deren Familien zu unterstützen.
Meine jetzige finanzielle Lage ist sehr schlecht. Infolge der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus und durch meine dadurch notwendig gewordene Emigration aus Österreich habe ich den größten Teil meines Vermögens verloren. Den kleinen Rest habe ich längst dafür verbraucht, um notdürftigst meinen und meiner Gattin Aufenthalt in Amerika, wo die Lebenshaltungskosten sehr hoch sind, zu bestreiten. Ich bin nun schon seit Langem auf die Unterstützung von Freunden und Bekannten angewiesen, insbesondere aber auf die Hilfe meines Neffen. Mein und meiner Frau hohes Alter und der leidende Zustand meiner Frau sind der Grund, dass wir beide vollkommen erwerbsunfähig sind und uns aus eigener Kraft unmöglich aus der schweren Notlage befreien können.“
Vielen Anwälten und Anwältinnen, die die Schoah überlebten, waren allein wegen der erduldeten psychischen Qualen ihrer Verfolgung nicht mehr in der Lage in den Rechtsanwaltsberuf zurückzufinden.
Die aus rassischen Gründen verfolgten Anwältinnen und Anwälte hatten ab dem 26. April 1938 ihr gesamtes in- und ausländisches Vermögen anzumelden, wenn dieses den Wert von 5.000 Reichsmark überstieg. Tatsächlich füllten aber sehr viele Personen, deren Vermögen diese Grenze bei Weitem nicht erreichte, vorsichtshalber dennoch die entsprechenden Formulare aus. Insbesondere hat offenbar eine große Anzahl von Rechtsanwälten, deren Vermögen unter der Grenze von 5.000 Reichsmark lag, ein solches Verzeichnis über das Vermögen von Juden nach dem Stand vom 27. April 1938 angelegt und eingereicht. Die Gründe für diese besondere Vorsicht mögen einerseits darin liegen, dass Rechtsanwälte, die nach dem Nürnberger Rassegesetz nur als Juden galten, nach dem Anschluss noch mehr gefährdet waren als die jüdische Durchschnittsbevölkerung, bestand doch vielfach die Vorstellung, dass Anwälte, besonders aber die jüdischen, besonders reich seien.
Was sich zutrug, wenn das Vermögen erst mal angemeldet war und einem dann entzogen wurde beschreibt Rechtsanwalt Dr. Ernst Basch, der seit dem 31. März 1914 Rechtsanwalt in Niederösterreich in Wolkersdorf war: „Am 16. September 1938 läuten in den Abendstunden der NS-Ortsgruppenleiter Karl Zwieauer, Graf Leo Hardeck, Vertreter der Gendarmerie und des örtlichen Bezirksgerichts an der Tür des Ehepaars Basch und zwingen die beiden, ihr Haus der Gemeinde zu „schenken“. Unter massiven Drohungen müssen Selma und Ernst Basch den Ort innerhalb weniger Stunden verlassen. Von den Männern unter Druck gesetzt verpflichten sie sich Volkersdorf nie wieder zu betreten. In einem Hotel in Wien finden die beiden vorübergehend Zuflucht. Ihre langjährige Volkersdorfer Haushaltsgehilfin verkaufte zuvor heimlich sichergestellten Schmuck der Familie. Mit dem Erlös finanziert das Ehepaar im März 1939 die Flucht über Berlin nach Frankreich. Doch am Atlantikhafen in Nantes nimmt die Gestapo Selma und Ernst Basch fest.“
388 verfolgte Anwälte und Anwältinnen wurden in Konzentrationslager deportiert, davon 303 ermordet. Wir wissen, dass 39 Anwälte und Anwältinnen durch die Verfolgungen in den Selbstmord getrieben worden sind. Wahrscheinlich sind es aber weit mehr. Tatsächlich verstarben in Österreich 167 verfolgte Anwälte und Anwältinnen während der Zeit des Nationalsozialismus.
Auch vor dem seit 1932 im Amt befindlichen Präsidenten der Wiener Rechtsanwaltskammer Dr. Siegfried Kantor machte die Verfolgung keinen Halt. Unter dem Druck der Verfolgung verzichtete er am 30. August 1938 auf den Anwaltsberuf und damit auf seine Eintragung als Rechtsanwalt. Er wurde kurz nach dem Anschluss, wie überdies alle politisch tätigen Rechtsanwälte, verhaftet und war dann drei Monate in Gestapo-Haft. Im August 1938 gelingt ihm dann die Emigration in Frankreich und nach der Besetzung Frankreichs weiter in die USA.
Selbst die erste Rechtsanwältin in Österreich, die auch gleichzeitig die erste Absolventin eines Jusstudiums in Österreich war, Marianne Beth, war von der Verfolgung betroffen. Sie wurde am 06. März 1890 als Marianne von Weisl in eine Wiener jüdische Anwaltsfamilie geboren. Anlässlich ihrer Eheschließung mit dem evangelischen Theologen Karl Beth konvertierte sie zum christlichen Glauben (evangelisch AB). Als Rechtsanwältin publizierte sie zur Rechtssituation von Frauen in der Wissenschafts- und Tagespresse, sie setzte sich für juristische Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung ein und war vorwiegend in Vereinen zur beruflichen Interessensvertretung von Frauen im Kontext der bürgerlich liberalen Frauenbewegung aktiv. So war sie im Vorstand des Bundes österreichischen Frauenvereinen, Präsidentin der österreichischen Frauenorganisation, Vorsitzende der Vereinigung der berufstätigen Juristinnen Österreichs. Sie war eine der 4 ersten internationalen Vizepräsidentinnen der in Genf 1930 gegründeten und wieder bestehenden International Federation of Business and Professional Women. 1938 musste Marianne Beth zunächst im Juli ihre Tätigkeit als Rechtsanwältin einstellen, im August dann auch als Gerichtsdolmetscherin. Mit Wirkung vom 31.12.1938 wurde sie aufgrund der Bestimmungen des Reichsbürgergesetzes als konvertierte Jüdin aus der Rechtsanwaltsliste gestrichen. Marianne Beth löste dann noch die Kanzlei auf und emigrierte 1939 in die USA wo sie nicht mehr als Juristin arbeiten konnte, sondern wie sie selbst schrieb für sehr wenig Geld sehr viel arbeiten musste, zuletzt in leitender Funktion in einem Übersetzerbüro. Marianne Beth starb am 19. August 1984 in einem Altersheim in the State of New York.
Zu den politisch verfolgten Kolleginnen und Kollegen gehörten viele, die als ehemalige Funktionäre der vaterländischen Front und des Heimatschutzes tätig waren, darunter Rechtsanwalt Dr. René Blavier, der als ehemaliger Funktionär der vaterländischen und des Heimatschutzes am 27. Juli 1939 von der Gestapo Wien erkennungsdienstlich erfasst und in Schutzhaft genommen wurde. Er befand sich in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau in Haft und wurde am 20. April 1943 aus dem KZ Dachau unter probeweiser Aufhebung seiner Schutzhaft entlassen. Seit dem 2. Oktober 1945 war er dann neuerlich als Rechtsanwalt mit Kanzleisitz in Wien eingetragen.
Unter den Anwälten im Widerstand möchte ich einen hervorheben: Rechtsanwalt Dr. Franz Schotola wurde am 10. Oktober 1944 im Zusammenhang mit seiner Betätigung für die Widerstandsgruppe „freies Österreich“ neuerlich festgenommen und am 14. November 1944 in das KZ Dachau eingeliefert. Zuvor wurde er schon wegen Amtsanmaßung festgenommen und blieb bis Februar 1943 in Haft. Aus dem Tagesbericht der Gestapo Wien Nr. 8, 24. bis 26. November 1942 zitiert: „Schotola hat im August 1942 beim WWK Wien I für einen entlassenen Schutzhäftling der Staatspolizei wegen eines Aufschubes der Einberufung vorgesprochen und sich dabei den Anschein eines Beamten der geheimen Staatsspolizei gegeben.“
Man bedenke, in der Zeit des Nationalsozialismus gibt sich ein Rechtsanwalt als Beamter der geheimen Staatsspolizei aus, um einen Schutzhäftling der Staatsspolizei Unterstützung zu bieten und riskierte damals sicher nicht nur seine eigene Verhaftung.
Abschließend möchte ich Ihnen einen Brief eines verfolgten deutschen Rechtsanwaltes an das sächsische Ministerium der Justiz in Dresden aus dem Mai 1933 vorlesen. Sie finden diesen Brief und das Schicksal dieses Rechtsanwalts nicht in diesem Buch, da Herr Dr. Helmut Klemperer ein deutscher und kein österreichischer Rechtsanwalt gewesen ist. Der Brief ist aber stellvertretend für das Gefühl, dass der gewöhnlich für das Recht stehende aber verfolgte und damit entrechtete österreichische Rechtsanwalt angesichts des Stempels „Gelöscht“ in seinem Anwaltsakt empfunden haben mag.
Dresden, am 13. Mai 1933:
„Ich erhielt Ihre Zuschrift vom 4. Mai 1933 in der Sie mir mitteilen, dass Sie die Zurücknahme meiner Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erwägen, weil ich nicht arischer Abstammung sei. Hierzu habe ich Folgendes zu äußern:
- Es ist richtig, dass ich nicht arischer Abstammung bin. Ich rühme mich vielmehr, jüdischer Abstammung zu sein, wie Jesus Christus und Karl Marx, die großen Anwälte des Rechts der mühseligen und beladenen, der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen. Nicht dass ich auf diese Abstammung stolz wäre, denn sie ist ja nicht mein Verdienst. Rassenstolz ist albern. Aber ich freue mich meiner Zugehörigkeit zum jüdischen Stamme: Er stand schon auf einer hohen Stufe der Gesittung, als die arischen Völker Europas noch rauhe Wilde waren. Sie verfolgten und verhöhnten ihn durch die Jahrhunderte hindurch, aber seine geschriebene Geschichte und seine Gesetze haben der Kultur des Abendlandes für immer ihren Stempel aufgedrückt.
Ich freue mich auch meiner Stammesverwandtschaft mit den vielen großen Männern, denen noch in neuerer Zeit die deutsche Anwaltschaft, überhaupt die deutsche Rechtspflege und Rechtswissenschaft so viel zu danken hätte: Mit dem ersten Reichsgerichtspräsidenten von Simson, mit Staub, Pinner, Bondi, Wilmoqsky, Lewy, Stein, Jonas, Goldscheid, Hachenburg, Isay, Seligsohn, Finger, Fuchs, Loewe, Rosenberg, Glaser, Rosenfeld, Manasse, Friedlaender, Dernburg, Jellinek, Dix, Mamroth, Marcuse, Nussbaum, Pringsheim, Hoeniger, Kelsen, Nawiasny, Lenel, Abraham, Lion, Sinzheimer, Strupp, Drucker, Levi, Alsberg, Breit, Magnus und den vielen Lehrern und Meistern des deutschen Rechts, die von ihrer jüdischen Abstammung kein Aufhebens machen.
- Ich habe auch nichts dagegen einzuwenden, dass Sie mich aus der deutschen Anwaltschaft ausschließen; ich befinde mich da in so ausgezeichneter Gesellschaft, dass ich Mühe haben werde, mich ihrer würdig zu zeigen. Zwar habe ich es bisher als eine Ehrensache betrachtet, deutscher Anwalt zu sein. Heute aber betrachte ich es als eine Ehrensache, nicht mehr deutscher Anwalt zu sein. Denn die höchsten Güter der Nation sind vernichtet: die Unabhängigkeit und Objektivität der Rechtspflege, die Achtung vor der Meinung Andersdenkender, vor ihrem Leben, ihrer Freiheit und ihrem Eigentum, bestehen in Deutschland nicht mehr. In Deutschlands Gefängnissen verkommen ohne Verfahren, ohne Urteil Tausende, die nichts verbrochen haben, als dass sie nicht die jetzt herrschende Meinung hatten. Die Selbstmorde dieser Unschuldigen reden eine furchtbare Sprache - furchtbar für Deutschland. Deutschland ist kein Rechtsstaat mehr. Und kein hoher deutscher Richter, kein angesehener deutscher Anwalt arischer Abstammung hat den germanischen Mut, hiergegen öffentlich aufzustehen, als Anwalt des zertrampelten Rechts der Minderheit - das offen auszusprechen, was die meisten von ihnen im Inneren denken.
Darum bin ich froh über den Trennungsstrich, den Sie ziehen, so albern auch die Theorien sind, nach denen ein deutscher Jude nicht mehr Anwalt sein soll. Ich müsste darüber lachen - wie es die ganze Welt tut - wenn mir nicht das Weinen näher säße: das Weinen nicht um mich, nicht um die deutschen Juden, auch nicht um die Opfer des neuen Systems, sondern das Weinen um Deutschland, um mein Land, das sich selbst aus der Reihe der gesitteten Nationen streicht.
Schließen Sie uns aus der Anwaltschaft aus: wir werden nicht aufhören, für das Recht zu kämpfen. Das ist unser Beruf, so wie das Deutschtum unsere Kultur und das Judentum unsere Abstammung ist. Sie nehmen uns das nicht weg.
Regierungen kommen und gehen, wir aber werden nicht müde werden, und nach uns kommen andere. Eines Tages wird das deutsche Volk einsehen, dass es wieder einmal auf dem falschen Wege war; eines Tages wird es vom Rausch der Feste und Feiern zurückkehren zur Vernunft und Objektivität, von der „Gleichschaltung“ zur Gleichberechtigung aller. Diesen Tag werden wir herbeiführen; verlassen Sie sich darauf.
Deutschland erwache!
Helmut Klemperer“
Sie können diesen Brief, der eine immer währende Aktualität hat, am Eingang bei den Buchständen in Kopie mitnehmen.
Herr Dr. Helmut Klemperer war seit 1925 in Chemnitz als Rechtsanwalt zugelassen, eine erste Emigration 1933 nach Spanien war erfolglos, erst 1937 emigrierte er erfolgreich über Prag nach Ecuador, wo er dann als Handelskorrespondent und Übersetzer tätig war. Er wurde 1957 in Wiesbaden wieder als Rechtsanwalt zugelassen und verstarb 1968 in Ecuador.
Ich bin nun am Ende der Präsentation des Buches Advokaten 1938 und darf Sie im Gedenken an die Opfer der Schoah bitten, meine Buchpräsentation in aller Stille ausgleiten zu lassen. Genießen Sie dabei die Musik des Niederösterreichischen Saxophonquartetts unter der Leitung von Herrn Bernhard Zingler. Im Anschluss daran dürfen wir Sie zu einem kleinen Imbiss hier in der Aula des Justizpalastes bitten.
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Bildverweise:
DDr. Marianne Beth: Nationalbibliothek, Bildarchiv
Dr. Abraham Groß: Privatbesitz Univ. Prof. Nachum Groß
Dr. Siegfried Kantor: Privatbesitz Alice Kantor
Dr. Marzell Glesinger: Privatbesitz David Glesinger